Manuskript zum Redebeitrag von Thomas Grove auf der Demo „Bissendorf bleibt bunt“ am 3. Mai 2024

Liebe Demokratinnen und Demokraten, liebe Bissendorfer!

Heute fast genau vor 75 Jahren wurde unser Grundgesetz am 23. Mai 1949, unsere Verfassung verkündet.

Seit nun 75 Jahren leben wir hier in Freiheit und Sicherheit, in Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Diese wahnsinnige Erfolgsgeschichte ist bedroht.

Bedroht, weil es Menschen gibt, die andere remigrieren wollen.

Bedroht, weil es Menschen gibt, die den von Menschen gemachten Klimawandel leugnen.

Bedroht, weil es Menschen gibt, die die Gleichberechtigung der Frauen nicht respektieren.

Bedroht, weil es Menschen gibt, die andere Menschen mit einer Behinderung nicht integrieren, sondern aussondern wollen.

Bedroht, weil es Menschen gibt, die uns in Passdeutsche und „Biodeutsche“ einteilen wollen.

Wirklich bedroht ist unsere Demokratie aber erst dann, wenn wir, die demokratische Mehrheit, diese Demokratie nicht mehr verteidigen, wenn sich die Demokraten nicht mehr einigen, wenn der Streit unter den Parteien dominiert und wenn dieser Streit die Lösungen verhindert, statt den Streit als Motor zur Kompromissfindung zu begreifen.

Schon einmal hat Deutschland die Demokratie verloren. Auf vielen Demos der letzten Monate wurden Transparente gezeigt mit Sprüchen wie „Biete Nachhilfe in Geschichte: 1933-1945!“.

Diese Plakate appellieren daran, aus der Geschichte zu lernen. Gut so!
Aber 1933 war es schon zu spät. 1933 war die Partei, die ein Programm voller Hass, Gewalt, Rassismus und Antisemitismus hatte, die die Freiheit und Demokratie vernichten wollte, schon an der Macht.

1929 trat der erste Bissendorfer, Ernst Meyer aus Uphausen-Eistrup, in die NSDAP ein. 1946 wurde er als „eifiger Nazi-Unterstützer“ (*1) entnazifiziert.

Ernst Meyer hat also mitgewirkt dabei, eine unmenschliche Diktatur aufzurichten und sie zu stabilisieren. Eine Diktatur, unter der hier in Bissendorf Menschen furchtbar leiden mussten.

(*1) Siehe Entnazifizierungsakte im Niedersächsischen Landesarchiv Osnabrück (Im Folgenden: NLA OS): Rep 980 Nr. 39636. 

Nur zwei Beispiele:

Im Februar 1941 werden die Bissendorferin Lina Gräbig und der erst 26 Jahre alte Pole Pawel Bryk von Bissendorfern denunziert. Vorgeworfen wird ihnen, miteinander sexuell verkehrt zu haben.

Nach den Nürnberger Gesetzen ein Kapitalverbrechen. Auch wenn dafür – bis heute! – jeder Beweis fehlt, wird Lina erst in einem „Schandmarsch“ bis nach Osnabrück zum Rosenplatz getrieben und 14 Monate im KZ Ravensbrück inhaftiert.

Pawel wird hier im Wald in Holte-Sünsbeck am 19. November 1941 grausam erhängt.

Denunziation, Schandmarsch und Erhängen alles nur mit der Beteiligung von Bissendorfern möglich (*2) .

Linas Sohn Heinz fällt am 14.02.1944 in Igumentschina in Russland (*3). Heinz Gräbig wird wie über 700 (*4) andere Bissendorfer und Bissendorferinnen Opfer des Zweiten Weltkriegs, eines Krieges, den die Nazis begonnen haben und der in nie gekannter Unmenschlichkeit geführt wurde.

Zweites Beispiel:

Nach dem Kriegsende ereignet sich ein weiteres fruchtbares Verbrechen innerhalb unserer Gemeinde.

Schon am 4. April 1945 befreien britische Truppen Bissendorf und Schledehausen von der Nazi-Herrschaft. Die unmittelbare Nachkriegszeit ist auch hier geprägt von Unsicherheiten, die auch durch die plötzliche Freiheit der zuvor versklavten Zwangsarbeiter hervorgerufen wird, weil diese sich nun im Recht sehen und auf Bauernhöfen Essbares und fahrbare Untersätze klauen.
In Schledehausen bildet sich deshalb eine „Bürgerwehr“ zum Schutz der Bevölkerung. Diese von Schledehausern angeführte Bürgerwehr erschießt dann am 19. April 1945 vier Russen und einen Polen (*5). Ein aufgesetzter Kopfschuss, Selbstjustiz statt eines rechtstaatlichen Verfahrens. Wie barbarisch!

Ernst Meyer aus Uphausen-Eistrup überlebt Krieg und Nazi-Herrschaft. Wir wissen nicht, ob er sein Mitmachen bei der Diktatur bereut hat, ob er Kindern und Enkelkindern davon erzählt hat, warum er mitgemacht hat.

Was ich aber weiß, ist, dass wir es besser wissen können, dass wir es besser wissen müssen.

Ich möchte meinen Kindern und (irgendwann vielleicht) Enkelkindern nicht auf die Frage antworten:
Warum hast du dich nicht für die Demokratie stark gemacht?

Warum hast du nichts gesagt, wenn ein Nachbar menschenfeindliches Zeug erzählt, wenn eine Sportkameradin Verschwörungstheorien verbreitete, wenn weggeguckt wurde, obwohl Unrecht geschah?

Liebe Bissendorfer: „Nie wieder ist jetzt!“ Und liebe Bissendorfer noch eins: Wenn ich von hinten durch den Rosenmühlenbach zum Supermarkt gehe, dann sehe ich ein Graffiti an der Wand. Dort steht eine 88. Das H ist der achte Buchstabe des Alphabets und die 88 ist unter Neonazis der Code für den deutschen Gruß.

Nie wieder ist jetzt und Nie wieder ist (auch) hier!

Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit und ich bin mir sicher, wenn wir Demokrat*innen zusam-menstehen, freuen sich unsere Enkelkinder noch über ihre Freiheit, ihre Sicherheit, ihr Recht auf Selbstbestimmung!

(*2) Sebastian Weitkamp: „Polenhure“. Lina Gräbig, Bissendorf und eine nicht gezahlte Entschädigung. In Osnabrücker Mitteilungen 117 (2012). S. 159-172. Karteikarte der Gestapo Osnabrück zu Lina Gräbig NLA OS Rep 439 Nr. 12357, zu Pawel Bryk NLA OS Rep 439 Nr. 5190.

(*3) https://www.volksbund.de/erinnern-gedenken/graebersuche-online.

(*4) Eigene Zählung nach den Namenslisten http://www.denkmalprojekt.org/2012/bissendorf-ehrenhain_lk-osnabrueck_nds.html, http://www.denkmalprojekt.org/2013/holte_frdhf_gem-bissendorf_lk-osnabrueck_wk1_wk2_ns.html und Horst Denke: Für Führer, Volk und Vaterland: Soldatenschicksale im Zweiten Weltkrieg aus dem Kirchspiel Schledehausen: Dokumentation. 2022.

(*5) Hans-Bernd Meier: Das Rote Haus. Kriegsende und Selbstjustiz in Schledehausen. In: Osnabrücker Mitteilungen 128 (2023). S. 205-234.